ESTW - Die „Hidden Champions“ der Digitalisierung des Schienenverkehrs.
Die Digitalisierung des Schienenverkehrs nimmt Fahrt auf. Für Reisende wird dies zunehmend spürbar: Das Reisen wird noch komfortabler (z. B. WLAN) und noch zuverlässiger. Für die Zuverlässigkeit bilden moderne elektronische Stellwerke (ESTW) eine zwar wenig auffallende, aber entscheidende Basis. ESTW sind die „Hidden Champions“ der digitalisierten „Schiene 4.0“. Doch der Anteil der ESTW liegt in Deutschland bei nur zwölf Prozent. Während unsere Nachbarländer, zum Beispiel Dänemark, ihre komplette Leit- und Sicherungstechnik auf den neuesten Stand bringen, zögert Deutschland. So kann die weitere Digitalisierung des Schienenverkehrs nicht gelingen.
Überdies: ESTW „made in Germany“ setzen global Maßstäbe. Signaltechnologie-Cluster wie Braunschweig, München, Berlin, Stuttgart, Dinslaken und Mönchengladbach liefern digitale Lösungen für die Zukunft. Aber Leitanbieter brauchen einen Leitmarkt Deutschland „Schiene 4.0“. Der sichert Arbeitsplätze und Know-how bei uns, weil Denkfabriken meist den Märkten folgen. Leitmarkt bedeutet zum Beispiel, die modernste Neubaustrecke Deutschlands (Halle – Erfurt – Nürnberg – München) pünktlich bis Ende 2017 durchgängig auszubauen. Investitionen in ESTW sind verkehrs-, klima- und wirtschaftspolitisch sinnvoll. Die Modernisierung der Stellwerkstechnik ist überf.llig. Deshalb sollte die Bundesregierung im Rahmen des aktuellen Investitionsprogramms (2016 – 2018) konsequent Investitionen in ESTW fördern.
Der Schienenverkehr ist ein Thema, das viele Menschen beschäftigt. Das gilt, weil der Schienenverkehr der umweltfreundlichste und klimaschonendste Verkehrsträger ist – und ein sehr komfortabler. Das gilt aber auch, weil Störungen im Betrieb in der Öffentlichkeit meist rasch eine große Rolle spielen. Stellwerke bilden das zentrale Nervensystem eines zuverlässigen Schienenverkehrs, denn sie steuern Weichen, Signale und Bahnübergänge.
Das war im August 2013 in Mainz zu sehen. Das dortige Stellwerk konnte über Wochen nicht betrieben werden, damals wegen Personalmangels. Was die Fahrgäste dann über den Großraum Mainz hinaus erlebten, hat für viel Verärgerung gesorgt: zahlreiche Züge fallen aus, der Regionalverkehr läuft nur eingeschränkt, für Pendler, die auf den Zug angewiesen sind, bedeutet dies tagtäglich Unwägbarkeiten, Fernverkehrszüge wie der ICE werden umgeleitet. Das Chaos provozierte Kopfschütteln, auch im Ausland. Wenn das Schienensystem anfällig ist, leiden unter den Folgen die Fahrgäste – und die Reputation unseres High-Tech-Standortes. Ohne funktionierende Stellwerke steht der Schienenverkehr still. Die Verkehrspolitik trägt Verantwortung für ein zuverlässiges Schienensystem.
Ein Drittel der 3.400 Stellwerke in Deutschland hat ein Durchschnittsalter von 80 Jahren (mechanische Stellwerke). Die Ältesten stammen aus Kaisers Zeiten mit Baujahren ab etwa 1900. Weitere 13 Prozent (elektro-mechanische Stellwerke) haben ein Alter von durchschnittlich etwa 65 Jahren. Ihr weiterer Betrieb bedeutet vor allem hohe Störanfälligkeit, hohe Ausfallraten und hoher Wartungsaufwand. Als Arbeitsplatz sind sie oft wenig attraktiv. Übrigens: Auch viele Bahnübergänge in unserem Land sind veraltet. Nicht funktionierende Bahnübergänge müssen teils sogar ganz geschlossen werden – mit allen Konsequenzen für die Anwohner. Deshalb ist auch hier ein Modernisierungsprogramm dringend geboten.
ESTW sind weniger störanfällig, ihr Wartungsaufwand ist drei- bis viermal niedriger, sie bieten attraktive Jobs für qualifizierte Arbeitnehmer – und ESTW sind leistungsfähiger. Denn das Schalten der Signale und Weichen geschieht vollelektronisch via Mausklick. Alle Abläufe werden auf Computermonitoren dargestellt. ESTW informieren über die Belegung des Fahrwegs und die zulässige Geschwindigkeit, können die Bahnhofsein- und -ausfahrt von Zügen automatisch regeln. Sie sorgen dafür, dass Bahnübergänge rechtzeitig schließen und öffnen. Dazu senden Züge ihre Positionsdaten an eine Betriebszentrale. Computer berechnen, wer wo und wann fahren darf und senden die Informationen an die Züge zurück.
Die umfassende Digitalisierung des Schienensystems kann nur mit ESTW gelingen. Als Teil der digitalen Leit- und Sicherungstechnik treiben sie maßgeblich die Digitalisierung des Schienenverkehrs voran. Und: Dank digitaler Technik kann die Kapazität des Schienennetzes erhöht werden. Weil die vorhandene Infrastruktur so besser genutzt werden kann, könnte das Verkehrswachstum verstärkt auf der Schiene bewältigt werden. Das würde vor allem die Straße entlasten, insbesondere vom wachsenden Güterverkehr und damit verbundenen Dauerstaus. Mehr Verkehr würde überdies höhere Einnahmen im Netzbetrieb erlauben, sodass die Trassenpreise pro Zug weniger steigen müssten – eine wichtige Voraussetzung, damit Zuschüsse des Bundes, etwa Regionalisierungsmittel, ihrem Zweck zugute kommen.
Ein anachronistisches Hindernis für das Wachstum des Schienenverkehrs in Europa bilden die rund 20 verschiedenen Zugsicherungssysteme in der EU. Dieses Mosaik führt dazu, dass Lokomotiven und Züge entweder alle nötigen Sicherungssysteme an Bord haben oder an der Ländergrenze komplett ausgetauscht werden müssen. Der einheitliche europäische Eisenbahnraum braucht eine einheitliche europäische Leit- und Sicherungstechnik: ERTMS (European Rail Traffic Management System). ESTW schaffen die unverzichtbare Grundlage für die Implementierung von ERTMS in Deutschland.
Mit Recht erwarten lärmbelastete Anwohner Lösungen für einen leiseren Schienenverkehr. Elektronische Leittechnik ermöglicht ein vorausschauendes Fahren von Zügen auf „elektronische“ Sicht. Ähnlich wie beim behutsamen Heranrollen eines Autos an die Ampel, ohne ganz zum Stillstand zu kommen. Diese intelligente Fahrweise reduziert die Lärmbelastung für Anwohner. ESTW sind deshalb Teil einer Strategie, die auf Innovationen für leiseren Schienenverkehr setzt. Ziel muss es sein, das gesamte Potenzial auszuschöpfen, um die Lärmbelastung im Schienenverkehr bis 2020 zu halbieren (verglichen mit 2008).
Die Verkehrspolitik steht in besonderen Verantwortung, einen Beitrag zu den Klimaschutzzielen zu leisten. Schienenverkehr erlaubt eine klimafreundliche Mobilität. Im Güterverkehr reduziert der Zug die CO2-Emissionen gegenüber dem Lkw um den Faktor viereinhalb, im Personenverkehr liegt die Bahn um den Faktor zweieinhalb besser als der Pkw. Digitale Lösungen ermöglichen zweierlei: einen noch ressourcenschonenderen Schienenverkehr und mehr Verkehrsanteile auf der Schiene. Beides hilft dem Klimaschutz.
Für den Fahrgast ist ein höheres Maß an Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit auf den Regionaloder Fernverkehrsverbindungen unmittelbar spürbar. ESTW können das Angebot erweitern, weil sie technisch mehr Verbindungen und eine kundenfreundlichere Taktung erlauben. Technologische Innovationen haben immer auch das Ziel, Mobilität auf der Schiene noch effizienter, zuverlässiger, ressourcenschonender und komfortabler zu gestalten.
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